Zinszahlungen als Geldumverteilung
1. Einleitung
Zinsen gehören zu den meistunterschätzten Kräften unserer modernen Wirtschaft. Für die meisten Menschen sind sie lediglich ein Preis: Man leiht Geld, zahlt dafür einen Zins, und die Angelegenheit scheint erledigt. Doch hinter diesem vermeintlich simplen Mechanismus verbirgt sich ein strukturelles Kräftefeld, das auf Gesellschaft und Wohlstand weit tiefgreifender wirkt als gemeinhin angenommen. Zinsen sind nicht bloss eine technische Grösse der Finanzindustrie – sie bestimmen, wer Vermögen aufbaut und wer über Jahre hinweg dafür arbeitet, dieses Vermögen zu bedienen.
Mit jedem aufgenommenen Kredit entsteht ein Strom von Zahlungen, der über Jahrzehnte an Gläubiger fliesst: Banken, Versicherungen, Pensionskassen oder private Vermögende. Solange Schulden existieren, existieren auch Zinsströme. Und solange Zinsströme existieren, verschiebt sich Vermögen systematisch von jenen, die Kredite benötigen, zu jenen, die Kapital besitzen. Dieser Mechanismus ist weder theoretisch noch zufällig – er wirkt jeden Tag, in jedem Haushalt, jedem Unternehmen und jedem Staatshaushalt.
Gleichzeitig befinden wir uns heute in einer Phase historisch hoher Schuldenstände: Die USA, grosse Teile Europas, aber auch viele private Haushalte und Unternehmen sind so stark verschuldet wie selten zuvor. In einer solchen Situation wird der Umverteilungseffekt der Zinsen unübersehbar, wenn man genau genug hinschaut. Je mehr Schulden in einem System vorhanden sind, desto grösser werden die Ströme an die Gläubiger. Und je höher die Zinsen steigen, desto stärker beschleunigt sich diese Dynamik.
Daraus ergeben sich grundlegende Fragen:
Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn die Finanzströme immer stärker von der breiten Bevölkerung hin zu einer vergleichsweise kleinen kapitalstarken Gruppe verlaufen? Wie wirkt sich dies auf politische Stabilität, demokratische Teilhabe und soziale Kohäsion aus? Und vor allem: Gibt es Wege, dieses System gerechter, widerstandsfähiger und nachhaltiger zu gestalten?
Dieser Artikel geht diesen Fragen nach und zeigt auf, wie Zinsen strukturelle Ungleichheit verstärken, warum die Schweiz trotz tieferen Zinssätzen nicht vollständig davor geschützt ist und welche alternativen Konzepte – auch historisch und kulturell – existieren.
2. Analyse der Lage
Die Vermögensverteilung verschiebt sich seit Jahrzehnten zugunsten der reichsten Bevölkerungsgruppen. Viele Erklärungsmodelle verweisen auf Globalisierung, technologische Entwicklung oder steuerpolitische Entscheidungen. Doch ein Kernmechanismus bleibt oft unerwähnt: die mathematische Logik von Zinsen.
Zinszahlungen sind keine neutrale Grösse, sondern ein strukturierter Zahlungsfluss. Wer Schulden hat – Staaten, Unternehmen oder Privathaushalte – zahlt Zinsen an Gläubiger. Da vermögende Gruppen mehr Kapital besitzen als die durchschnittliche Bevölkerung, erhalten sie überproportional hohe Zinseinkommen. Diese Einkommen steigern wiederum ihr Vermögen, das erneut verzinst wird. So entsteht ein selbstverstärkender Kreislauf: Vermögen wachsen automatisch, Schulden erzeugen immer neue Belastungen. Und Zinsen werden in einigen Ländern wie z.B. Deutschland tiefer besteuert als Arbeitseinkommen.
Mit steigenden Schuldenständen steigt die volkswirtschaftliche Relevanz dieser Ströme massiv an. Wenn Zinsen weltweit wieder anziehen, wie seit 2022 in USA und Europa, werden diese Umverteilungseffekte plötzlich sichtbar. Ein immer grösserer Teil der allgemeinen Wertschöpfung fliesst nicht mehr in reale Investitionen oder Konsum, sondern in Zinszahlungen. Auch im Budget einiger Staaten nimmt der Anteil der Zinsen immer mehr zu. Dieser Effekt trifft im Endeffekt vor allem die breite Bevölkerung – jene, die Kredite benötigen oder deren Staaten hohe Schulden bedienen müssen. Die Folge ist eine strukturelle Schwächung des Mittelstands und eine Konzentration des Vermögens in den oberen Einkommensschichten.
3. Hauptteil
3.1 Zinsen als permanenter und systemischer Umverteilungsmechanismus
Zinsen bilden die unsichtbare Infrastruktur unseres gesamten Finanzsystems. Sie entscheiden darüber, wie Geldströme verteilt werden, welche Investitionen stattfinden und wie die Wertschöpfung innerhalb der Gesellschaft verteilt wird. Während viele Menschen Zinsen nur in Form von Hypotheken oder Sparkonten kennen, sind sie volkswirtschaftlich der Treiber eines enormen und permanenten Umverteilungsprozesses. Jede Schuld erzeugt eine Verpflichtung zur Rückzahlung plus Zins. Dieser zusätzliche Zahlungsfluss fliesst jedes Jahr an Gläubiger – unabhängig davon, ob diese produktiv arbeiten und einen persönlichen Beitrag zur realen Wertschöpfung leisten, oder ob sie es sich auf Kosten der anderen gut gehen lassen..
Damit entsteht eine strukturelle Asymmetrie: Wer Vermögen besitzt, erhält einen wachsenden Anteil der gesamten Wirtschaftsleistung; wer kein Vermögen hat, zahlt einen wachsenden Anteil seiner Zeit, seines Einkommens oder seiner Steuern für die Bedienung von Fremdkapital. In der Schweiz zeigt sich dies besonders im Immobilienmarkt. Ein grosser Teil des privaten Wohlstands steckt in Immobilien, die überwiegend fremdfinanziert sind. Haushalte zahlen über Jahrzehnte hinweg Zinsen, die über die Zeit kumuliert weit über dem ursprünglichen Darlehen liegen können. Jeder einzelne Zinsfranken wandert zu Kapitalgebern wie Banken, Versicherungen oder Pensionskassen. Und im Endeffekt sind die Zinsen auch in den Mieten enthalten.
Während für einzelne Haushalte ein Zinsanstieg „nur“ eine monatliche Belastung bedeutet, ist er auf Makroebene ein mächtiger Hebel für Vermögenskonzentration. Staaten, Unternehmen und Millionen privater Haushalte zahlen ständig Zinsen. Dies führt dazu, dass der Finanzsektor – und damit jene, die über grosses Kapital verfügen – systematisch Einnahmen generieren, ohne in gleichem Mass Risiken zu tragen oder reale wirtschaftliche Leistungen zu erbringen. Dieser permanente Abfluss aus der Realwirtschaft in den Finanzsektor verengt langfristig den Spielraum für produktive Investitionen und führt zu einer Konzentration wirtschaftlicher Macht.
3.2 Warum Vermögen automatisch wachsen – selbst ohne Arbeit
Zinsen erzeugen eine Form von automatischem Einkommen, das unabhängig von individueller Leistung entsteht. Vermögende Haushalte, institutionelle Investoren oder Banken verfügen über grosse Kapitalbestände, die sich durch Zinszahlungen ständig vermehren. Dieser Mechanismus basiert auf exponentiellem Wachstum: Vermögen entwickeln eine Eigendynamik, die weit über das hinausgeht, was Menschen mit Arbeit erwirtschaften können.
Während Löhne üblicherweise linear steigen und gleichzeitig durch Inflation und Steuern relativ geschwächt werden, wachsen Kapitalerträge oft schneller als das allgemeine Wirtschaftswachstum. Dies führt dazu, dass Vermögende ihre relative Position in der Gesellschaft stabilisieren und ausbauen können. Der französische Ökonom Thomas Piketty bringt diesen Effekt mit der Formel r > g auf den Punkt: wenn die Rendite auf Kapital (r) höher ist als das Wirtschaftswachstum (g), gewinnt Kapital gegenüber Arbeit langfristig immer mehr Gewicht.
In der Schweiz mit ihren hohen Vermögensbeständen wird dieser Effekt besonders spürbar. Pensionskassen sammeln enorme Kapitalmengen und investieren oft weltweit in festverzinsliche Anlagen. Die daraus erzielten Zinsen erhöhen die Vermögen derjenigen, die ohnehin grosse Vorsorgeguthaben besitzen. Vermögenslose oder verschuldete Haushalte hingegen tragen die Last der Zinszahlungen, versteckt in ihren Mieten, ohne selbst profitiert zu sein. Die Folge ist eine strukturelle Schere, die über Generationen hinweg wirkt und sich kaum mehr schliessen lässt, solange das System unverändert bleibt.
3.3 Makroökonomische Risiken steigender Zinslast
Mit steigenden Schuldenständen steigt auch die systemische Relevanz der Zinsen. Ein hoher Schuldenberg bedeutet, dass ein immer grösserer Anteil der Wertschöpfung für Schuldendienst aufgewendet werden muss. Staaten wie die USA, Italien, Frankreich oder Japan geben enorme Summen für Zinszahlungen aus. Diese Gelder stehen nicht für Bildung, Gesundheit, Infrastruktur oder Klimapolitik zur Verfügung. Stattdessen fliessen sie an Investoren – institutionell oder privat –, die Staatsanleihen halten.
In der Schweiz sind die Staatsfinanzen zwar stabil, dies wurde vor allem durch die Einführung der Schuldenbremse gefördert.
Unternehmen mit hoher Fremdfinanzierung – insbesondere in der Bau- und Immobilienbranche – spüren die steigenden Finanzierungs- wie auch die in den letzten Jahren stark gestiegenen Baukosten unmittelbar. Dies dämpft Investitionen und erhöht die Wahrscheinlichkeit wirtschaftlicher Abschwächungen.
Die Realwirtschaft reagiert auf steigende Zinsen nahezu reflexartig mit Zurückhaltung. Konsum und Investitionsbereitschaft sinken, während die Zinskosten steigen. Unternehmen schieben Entwicklungsprojekte hinaus, Haushalte reduzieren Renovationen, und Startups kämpfen mit höheren Kapitalkosten. Damit wachsen nicht nur soziale Ungleichheiten, sondern auch strukturelle wirtschaftliche Risiken. Ganze Branchen können von Zinszyklen abhängig werden, und politische Entscheidungsspielräume schrumpfen, weil immer mehr Mittel in den Finanzsektor fliessen.
In der Baubrachen sind diese Wellen besonders gut zu sehen. Steigen die Zinsen, wird die Finanzierung schwieriger, sinken die Zinsen, wollen viele kaufen und die Preise steigen.
3.4 Die Rolle der Zinshöhe – Warum die Schweiz weniger stark umverteilt als USA und Eurozone
Die Höhe des Zinssatzes ist ein zentraler Verstärker oder Dämpfer der Umverteilung. In der Schweiz sind die Zinssätze historisch tiefer als in der Eurozone oder den USA. Dieser Unterschied ist weit mehr als eine geldpolitische Fussnote – er bestimmt die Intensität der Umverteilungsströme.
Wenn in den USA die Leitzinsen oft bei 5 % liegen, während sie in der Schweiz bei 1,5–2 % stehen, führt dies zu einer gewaltigen Divergenz. Ein hoch verschuldeter Staat wie die USA überweist jedes Jahr hunderte Milliarden Dollar an Zinsen an Anleihehalter. Ein grosser Teil davon fliesst an Pensionsfonds, Banken und sehr vermögende Privatpersonen. Die Schweiz hingegen hat dank ihres tieferen Zinsniveaus und eines bescheidenen Staatsschuldenbergs eine vergleichsweise geringe Umverteilungslast aus Anleihen.
Auch private Haushalte profitieren in der Schweiz von tieferen Zinsen auf Hypotheken. Dadurch bleibt ein grösserer Anteil ihrer Einkommen in der Realwirtschaft. Gleichzeitig bedeutet dies, dass Kapitalbesitzer weniger Zinseinnahmen erzielen. Diese Kombination führt zu einer messbar geringeren Konzentration wirtschaftlicher Macht. Trotzdem ist die Schweiz eines der Länder mit der höchsten privaten Hypothekenverschuldung. Und auch mit, im Vergleich zum umliegenden Ausland, sehr hohen Immobilienpreisen. Die tiefen Zinsen werden also durch höhere Immobilienpreise ausgeglichen. Die Zinsströme können deshalb bei den Hypotheken ähnlich sein wie in anderen Ländern.
Doch auch hier gilt: Ein tieferer Zins bremst die Umverteilung – eliminiert sie aber nicht. Denn selbst bei moderaten Zinssätzen wandern jährlich Milliarden CHF von Haushalten mit Hypotheken zu Kapitalgebern. Die Dynamik ist dieselbe wie in den USA oder der Eurozone; lediglich das Tempo der Umverteilung ist geringer.
3.5 Historische und religiöse Alternativen – Zinsverbot in Bibel und Islam
Schon antike Gesellschaften erkannten die gefährliche Dynamik von verschuldungsgetriebener Umverteilung. Die Bibel enthält klare Regeln, die das Verleihen von Geld innerhalb der Gemeinschaft ohne Zins vorschreiben. Schulden sollten keine dauerhafte Form von Abhängigkeit erzeugen. Im Jubiläumsjahr sollten Schulden sogar erlassen werden, um eine soziale Balance herzustellen.
Im islamischen Finanzwesen gilt das Prinzip des Zinsverbots (Riba). Banken dürfen keine festen Zinsen verlangen, sondern arbeiten mit Gewinn- und Verlustbeteiligungen. Das führt zu einer völlig anderen Risikoverteilung: Der Kapitalgeber trägt Verantwortung und erhält keine garantierte risikolose Rendite. Kapital erhält im islamischen Modell erst dann eine Legitimität zur Rendite, wenn es reale Wertschöpfung ermöglicht.
Diese Modelle zeigen: Zins ist keine naturgesetzliche Notwendigkeit, sondern eine kulturelle und institutionelle Entscheidung. Gesellschaften haben über Jahrtausende Wege gesucht, die zerstörerischen Effekte unbegrenzter Schuldenspiralen zu begrenzen. Die heutige Diskussion über Reformen knüpft an diese Tradition an – mit modernen Instrumenten und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
3.6 Silvio Gesell und Freigeld
Das von Silvio Gesell entwickelte System der „Freigeld“-Ökonomie basiert auf einer einfachen, aber radikal anderen Idee: Geld soll nicht gehortet, sondern kontinuierlich im Umlauf gehalten werden. Um dies zu erreichen, schlägt Gesell eine Geldumlaufgebühr vor – eine Art „Negativzins“ auf das Halten von Geld. Wer Geld nicht nutzt, sondern zurückbehält, verliert einen kleinen Teil seines Wertes. Dadurch wird Sparen nicht bestraft, aber Passivität des Geldes verhindert. Kapital soll arbeiten, nicht ruhen.
Gesell wollte damit die strukturellen Schwächen des heutigen Systems überwinden: Zinseszins, Vermögenskonzentration und konjunkturelle Einbrüche. Wenn Geld zirkuliert, statt sich zu stauen, würden Investitionen, Konsum und Beschäftigung stabil bleiben. Historische Beispiele – etwa das Wörgler Freigeldexperiment – zeigen, dass dieses Prinzip kurzfristig tatsächlich Wirtschaftsdynamik erzeugen kann. Gesells Idee bleibt weitgehend unverstanden, aber sie stellt eine der konsequentesten Alternativen zum zinsgetriebenen Geldsystem dar.
3.7 Bezug zur Vollgeld-Initiative
Die Schweizer Vollgeld-Initiative zielte darauf ab, die Macht über die Geldschöpfung zu reformieren. Banken sollten kein Buchgeld mehr aus dem Nichts schaffen dürfen. Stattdessen wäre die Nationalbank allein für die Geldschöpfung verantwortlich gewesen. Dadurch wären ein Teil der Gewinne aus der Geldschöpfung – die heute im Bankensektor anfallen – der Allgemeinheit zugutegekommen.
Ein solches System hätte die Umverteilung auf jeden Fall verringert, da neu geschaffenes Geld zinsfrei in Umlauf gekommen wäre. Auch wenn die Initiative politisch scheiterte, hat sie ein wichtiges Fenster geöffnet: Die Diskussion darüber, wer die strukturellen Gewinne des Geldsystems erhalten soll – private Banken oder die Allgemeinheit.
4. Schlussfolgerung & Ausblick
Zinsen sind weit mehr als ein technischer Preis. Sie sind ein struktureller Mechanismus, der Vermögen verteilt – oder genauer: umverteilt. Steigende Zinsen und hohe Schulden führen dazu, dass Kapitalströme zunehmend schneller zu jenen fliessen, die bereits über grosse Vermögen verfügen. Diese Dynamik verstärkt Ungleichheit und schwächt langfristig die gesellschaftliche Stabilität.
Doch es gibt Alternativen. Religiöse Modelle wie das islamische Finanzsystem zeigen, dass geldwirtschaftliche Systeme ohne klassische Zinsen funktionieren können. Wirtschaftliche Reformmodelle wie das Vollgeld zeigen, dass die Struktur der Geldschöpfung gestaltbar ist. Und moderne Ideen – von digitalen Zentralbankwährungen ohne Zinsmechanismus bis zu gemeinschaftsorientierten Finanzierungsmodellen – eröffnen neue Perspektiven.
Entscheidend ist, dass wir beginnen, über diese Fragen zu sprechen. Das Geldsystem wirkt oft abstrakt, aber seine Konsequenzen prägen unser Leben direkt: unsere Hypotheken, unsere Löhne, unsere Steuern, unsere politische Stabilität.
Deshalb mein Appell: Sprich mit Freunden, Bekannten und Kolleginnen darüber, wie Zinsen funktionieren – und welche Wirkung sie auf Vermögen, Schulden und gesellschaftliche Fairness haben. Nur wenn wir verstehen, wie Geldströme entstehen, können wir darüber nachdenken, wie wir sie in Zukunft gerechter gestalten wollen.

