Wie kam die SNB zu ihren hohen EUR- und USD-Beständen?
1. Einleitung
Wie kann eine Zentralbank in einem kleinen, offenen Land zu einem der grössten Halter von Fremdwährungen werden? Die Schweizerische Nationalbank (SNB) hält Fremdwährungsbestände in einer Größenordnung, die man sich national kaum vorstellt: Hundert-Milliarden-Summen in Euro und Dollar – eine Bilanzposition, die an das Volumen ganzer Volkswirtschaften erinnert. Viele Menschen hören die Zahl von über 700 Milliarden, nicken und fahren fort. Doch diese Bestände sind kein abstraktes Buchungsdetail: Sie erzählen von Macht, Vertrauen, Angst und Ungleichgewicht – und sie betreffen uns alle.
Die einfache Erklärung, wonach die SNB «Geld drucke», um den Franken zu schwächen, ist verführerisch, aber irreführend, obwohl sie teilweise stimmt. Tatsächlich ist jede Devisentransaktion der SNB Reaktion auf reale Ströme: Waren, Dienstleistungen, Investitionen, und vor allem Kapital, das Sicherheit sucht. Die SNB steht in der Mitte eines globalen Geflechts: Wenn ausländische Käufer Franken brauchen, steigt die Nachfrage; wenn international Kapital unsicher wird, gelangt es in die Schweiz. Die Nationalbank reagiert wenn der Franken, aus ihrer Sicht zu stark wird, erzeugt Franken im Tausch gegen Devisen – und ihre Bilanz wächst.
Dieses Verhalten ist nicht neutral: Die SNB schafft damit Franken, verändert die Geldmenge im Inland und beeinflusst, wenn auch indirekt, die Bedingungen für Investitionen, Konsum und Vermögen. Gleichzeitig verschärft das System globale Ungleichgewichte: Überschussländer akkumulieren Reserven, Defizitländern gehen die Devisen aus. Was in Bern als Stabilisierung erscheint, ist global betrachtet Teil eines Ungleichgewichts, das Gewinner und Verlierer produziert.
In diesem Artikel lesen Sie nicht nur eine Erklärung der Entstehungsmechanik der SNB-Devisenbestände, sondern auch eine Analyse der zugrunde liegenden Ursachen: Handels- und Dienstleistungsströme, Kapitalmärkte, Anlageentscheidungen in- und ausserhalb der Schweiz, die buchhalterische Logik hinter den Positionen und die besondere Rolle des US-Dollars. Am Ende steht die Frage, welche Konsequenzen dieses System für Demokratie, ökonomische Souveränität und globale Gerechtigkeit hat. Und eine Aufforderung: Informieren — diskutieren — handeln.
2. Hauptteil
2.1 Handelsbilanzüberschüsse – der Ursprung der Ströme
Der wohl wichtigste, klarste und zugleich üblicherweise am wenigsten hinterfragte Treiber ist der Warenhandel: Die Schweiz exportiert hochpreisige, technologisch anspruchsvolle Güter – Pharma, Präzisionsmaschinen, Uhren. Käufer im Ausland zahlen in ihren Währungen; sie tauschen Euro, Dollar oder andere Währungen in Franken, um die Lieferungen zu begleichen. Rein marktwirtschaftlich würde das, wegen der Nachfrage, zu einer Frankenaufwertung führen. Eine Aufwertung aber macht Schweizer Produkte teurer und riskiert Arbeitsplätze in exportorientierten Branchen.
Die SNB interveniert, um die negativen Folgen einer starken Aufwertung zu mildern: sie verkauft Franken gegen Fremdwährungen – und erhöht dadurch ihre Fremdwährungsbestände. Diese Interventionen sind keine reine «Geldpolitik», sondern auch Industrie- und Beschäftigungspolitik in einer impliziten Form. Sie verschieben die Kosten und Nutzen zwischen Exporteuren, Konsumenten, Sparern und der gesamten Volkswirtschaft.
Langfristig verwandelt sich diese Praxis in Struktur: Was einst temporäre Stützung sein sollte, wird Gewohnheit. Eine dauerhaft exportorientierte Volkswirtschaft produziert dauerhafte Geldzuflüsse, welche die Zentralbank neutralisieren muss, wenn sie die Wettbewerbsfähigkeit erhalten will. Das Resultat: eine aufgeblähte Devisenbilanz.
2.2 Dienstleistungsbilanz – strukturell im Minus
Ein oft übersehener, aber zentraler Punkt ist die Differenz zwischen Waren- und Dienstleistungsbilanz. Während die Schweiz im Warenverkehr einen starken Überschuss erzielt, ist die Dienstleistungsbilanz strukturell schwächer oder sogar negativ: Tourismusausgaben im Ausland, Transporte, Software- und Cloud-Services, digitale Plattformdienste sowie ausländische Logistik- und Marketingleistungen führen zu Frankenabflüssen. Auch die wachsende Nutzung ausländischer IT-Infrastruktur und Cloudanbieter schlägt hier zu Buche.
Das bedeutet: Ein Teil der Gesamtökonomie «importiert» Dienstleistungen, die in Fremdwährung bezahlt werden müssen. Theoretisch dämpfen diese Dienstleistungsimporte den Aufwertungsdruck des Frankens. In der Praxis reicht dieser Effekt jedoch nicht aus, um die massiven Warenüberschüsse und insbesondere die – oft nur episodisch – ankommenden Safe-Haven-Zuflüsse auszugleichen. Die Arbeitsteilung moderner Volkswirtschaften führt also dazu, dass Warenüberschüsse und Dienstleistungsdefizite nebeneinander bestehen – und zusammen die Notwendigkeit von SNB-Interventionen aufrechterhalten.
2.3 Safe-Haven-Zuflüsse – Psychologie mit Systemwirkung
Der Franken ist «sicher», weil er stabil scheint: politisch stabil, mit hoher Rechtssicherheit und robusten Finanzinstitutionen. In unsicheren Zeiten – geopolitische Konflikte, Schuldenkrisen, Pandemien – laufen Investoren in vermeintlich sichere Häfen. Diese Zuflüsse sind zu einem Teil spekulativ, zum Teil aber rationale Allokation von Risiken.
Für die Schweiz entstehen dadurch zwei Effekte: kurzfristig höhere Vermögenswerte und eine erhöhte Volatilität in der Bilanz der Zentralbank; langfristig jedoch eine systemische Verpflichtung: Die SNB muss intervenieren, um eine zu starke Aufwertung zu verhindern. Jede Intervention schafft Franken, die dann im Inland «parken» – häufig als Sichtguthaben, die das Banken- und Kreditwesen befeuern. Die SNB verhält sich damit wie ein globaler «Puffer» gegen Unwägbarkeiten anderer Staaten und Märkte.
2.4 Anlageentscheidungen: In- und Ausland – ein Auseinanderlaufen
Schweizer Institutionen (Pensionskassen, Versicherungen, Stiftungen) investieren global, um Renditen zu erzielen. Sie kaufen Aktien, Anleihen, Immobilien außerhalb der Schweiz, häufig in Fremdwährungen. Paradoxerweise resultiert daraus kein Nettoabfluss, weil gleichzeitig anonymes und privates Auslandskapital in die Schweiz zurückkehrt – zur Wertsicherung, aus regulatorischen Gründen oder auf der Suche nach politischer Stabilität.
Die Folge: Ein Auseinanderlaufen der Anlagepfade. Während das inländische Kapital «diversifizieren» will, bevorzugen ausländische Eigentümer die Schweiz als sicheren Ort. Die SNB agiert als Netto-Kompensator dieses Ungleichgewichts. Das fördert ein Modell, in dem Gewinne und Vermögenszuwächse weniger durch inländische produktive Investitionen, sondern mehr durch internationales Finanzarbitrage und Vermögensverwaltung erzielt werden.
2.5 Länder mit extremer Devisenknappheit – ökonomisch analysiert
Während die Schweiz Devisen akkumuliert, erleben andere Länder das Gegenteil: chronische Devisenknappheit. Ökonomisch betrachtet entsteht das, wenn ein Land dauerhaft mehr importiert (Waren, Energie, Lebensmittel, Kapitalgüter) als es exportiert, und wenn Kapitalzuflüsse ausbleiben oder flüchten. Ohne ausreichende Devisen können Staaten ihre Importe nicht bezahlen, müssen Zahlungen verschieben, Devisenkontrollen einführen oder teure Auslandskredite aufnehmen.
Beispiele wirtschaftlicher Mechanik: Sinkende Devisenreserven führen zu Abwertungserwartungen; diese veranlassen Unternehmen und Haushalte, ihre Fremdwährungsschulden zu fürchten, Kapital flieht, und Zinsen steigen. Immer öfter bleibt nur die Aussenverschuldung in Fremdwährung als Ausweg – was die Verwundbarkeit erhöht. In dieser Logik ist die Weltbilanz geschlossen: Die Überschüsse von Ländern wie der Schweiz helfen, die Existenz anderer Volkswirtschaften aufrechtzuerhalten, gleichzeitig zementieren sie aber Abhängigkeiten und Ungleichheiten.
Ökonomisch tragfähig wäre ein System, in dem Entwicklungsländer Zugang zu stabiler Finanzierung, fairen Handelsbedingungen und Technologie hätten, um Exporte zu steigern. Solange aber globale Machtverhältnisse, Marktstrukturen und historische Pfade bestehen, bleibt Devisenknappheit ein strukturelles Problem – das durch die Akkumulation von Reserven in reichen Ländern verstärkt wird.
2.6 Die Eurokrise, der Mindestkurs und die Folgen
Die Entscheidung der SNB, 2011 einen Mindestkurs gegen den Euro zu verteidigen und ihn 2015 aufzugeben, war nicht nur eine Episode der Geldpolitik, sondern ein Lehrstück für die Grenzen nationaler Steuerung in einem vernetzten System. Beim Aufbau des Mindestkurses kaufte die SNB massiv Euro – um den Franken relativ schwach zu halten. Als der Kurs dann freigegeben wurde, offenbarte der Markt die Spannung: extreme Volatilität und kurzfristige Verwerfungen.
Was blieb, war die Bilanzmasse: Auch nach Aufhebung des Mindestkurses blieben die Devisenbestände hoch. Die SNB hatte sich in eine Position gebracht, in der sie fortlaufend intervenieren musste – ein Ergebnis struktureller Erfordernisse, nicht von Willkür. Diese Phase zeigte auch die politische Dimension: Zentralbankentscheidungen sind nicht isoliert, sie haben unmittelbare soziale und politische Konsequenzen. Die Nationalbank wird getrieben von ihren eigenen Handlungen, will sie ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren.
2.7 Bilanzielle Gegenseitigkeit – Buchführung mit politischer Kraft
Das Prinzip «jede Geldschuld hat ein Geldguthaben» ist mehr als Rechnungswesen: Es ist politische Ökonomie. Wenn die SNB Fremdwährungen kauft, erscheinen diese als Aktiva; dagegen entstehen Passiva in Form von Zentralbankguthaben, die wiederum das Geschäftsbankensystem beeinflussen. Diese Sichtguthaben bilden einen Teil der Basis der Giralgeldschöpfung, über die Kredite vergeben werden. Vor allem aber verdecken sie Liquiditätsprobleme im Bankensektor.
Die technische Seite: Devisenkauf → SNB hält Fremdwährung → Geschäftsbanken erhalten Frankenreserven → Geldmenge (kurzfristig) steigt → Kredit- und Vermögenspreise reagieren. Die politische Seite: Wer profitiert von steigenden Vermögenswerten? Wer trägt das Risiko bei späteren Verlusten in der SNB-Bilanz? Diese Fragen sind nicht rein ökonomisch; sie betreffen Umverteilung, Legitimität und demokratische Kontrolle. Und beeinflussen die Ausschüttungen der SNB an Bund und Kantone.
2.8 Verbindung zur Vollgeld-Debatte
Die Vollgeld-Initiative forderte, die Geldschöpfung zu zentralisieren – als Idee: weniger Risiko, mehr Kontrolle. Die Praxis zeigt jedoch ein Paradoxon: Die SNB schafft bereits Geld – aber nicht notwendigerweise mit dem Ziel, reale Investitionen oder breite Wohlfahrt zu fördern. Ihre Geldschöpfung ist defensiv: Sie dient der Stabilisierung von Wechselkursen und des Finanzsystems.
Die Kernkritik der Vollgeld-Befürworter bleibt relevant: Wer macht die Regeln, wer profitiert, und wer trägt Verluste? Doch die Antwort liegt nicht nur in einer formalen Regeländerung. Solange globale Kapitalströme und Handelsschreie die Bedingungen setzen, bleibt die Geldschöpfung an externe Dynamiken gebunden.
2.9 Die Sonderrolle des US-Dollar – globaler Kommentar
Der US-Dollar beherrscht das System wie kaum eine andere Währung: Als dominante Reserve- und Transaktionswährung erlaubt er den USA, internationale Verpflichtungen in ihrer eigenen Währung zu bedienen. Ökonomisch ist das kein moralischer Freibrief, sondern struktureller Vorteil: Nachfrage nach Dollar entsteht durch den Welthandel (Öl, Rohstoffe), historische Verträge und Finanzmärkte, die USD-Denomination bevorzugen. Geschützt durch die US Armee, die überall wo es um Öl geht, einen Stützpunkt hat. Damit niemand auf Dumme Ideen kommt, sein Öl z.B. Nicht gegen Dollar verkaufen zu wollen.
Aus weltökonomischer Sicht führt das zu einem dauerhaft asymmetrischen Arrangement: Andere Länder müssen Dollar halten, um Handel zu treiben; die USA können Defizite finanzieren, die andere Länder dann ausgleichen müssen – teilweise durch Aufbau eigener Reserven. Theoretiker sprechen in diesem Zusammenhang vom «Triffin-Dilemma»: Die globale Nachfrage nach einer Reservewährung steht im Widerspruch zu fiskalischer und monetärer Gesundheit des Emittenten.
Für die SNB bedeutet das: Ein Teil ihrer Reserven ist schlicht Folge der globalen Rolle des Dollars. Während die Schweiz bemüht ist, den Franken zu stabilisieren, ist sie gleichzeitig Vermittler in einem System, das von einer einzigen Währung dominiert wird. Die US-Geldpolitik, die Nachfrage nach Dollar und globale Kreditströme beeinflussen damit direkt die Schweizer Bilanz – ohne demokratische Mitbestimmung derjenigen, deren Währungen betroffen sind.
3. Schlussfolgerung und Ausblick
Die SNB-Devisenbestände sind kein technischer Zufall, sondern Ergebnis eines komplexen Geflechts aus Handel, Kapitalbewegungen, institutionellen Anlageentscheidungen und globalen Machtstrukturen. Sie spiegeln ein System, in dem Sicherheit und Vertrauen ungleich verteilt sind – und in dem die Mechanismen nationaler Politik oft zu Reaktionen auf externe Zwänge verkommen.
Was folgt daraus politisch und ökonomisch?
Erstens: Geld- und Währungspolitik sind nicht rein technischer Sachverstand. Sie sind gesellschaftliche Entscheidungen mit Verteilungswirkung. Wenn die SNB interveniert, verteidigt sie Exporte und Arbeitsplätze – aber sie beeinflusst auch Vermögensverteilung, Preise und finanzielle Vulnerabilität.
Zweitens: Globale Resonanzen verlangen koordinierte Antworten. Ein einzelnes Land kann strukturelle Schieflagen kaum allein korrigieren.
Drittens: Die Sonderstellung des USD macht die internationalen Finanzströme anfällig für Politik- und Musterbrüche in Washington – Effekte, die in Bern unmittelbar spürbar sind.
Für die Schweiz bedeutet das: Es braucht eine ehrliche Debatte über wirtschaftliche Prioritäten. Wollen wir dauerhaft ein Parkhaus für globales Kapital sein, oder investieren wir verstärkt in inländische Produktivität, Bildung und nachhaltige Infrastruktur? Welche Rolle soll die SNB langfristig einnehmen: reiner Stabilitätsverwalter oder aktiver Gestalter, der mit Fiskalpolitik und Regulierung gemeinsam wirksame Gegenkräfte schafft?
Mein Aufruf zur Tat ist konkret: Sprich mit Freunden, Familie und Kolleginnen über diese Zusammenhänge. Teile Beispiele aus dem Alltag: warum höhere Exporte nicht automatisch besser für alle sind, wieso Anlagen ins Ausland nicht gleich mehr Investitionen im Inland bedeuten, und wie Devisenhäufung auf der einen Seite Devisenknappheit auf der anderen Seite widerspiegelt. Frage Politik und Institutionen nach Transparenz: Welche Risiken hält die SNB offen? Wie werden Verluste verteilt? Wer entscheidet über die Strategie – und mit welchen Zielen?
Nur ein informierter öffentlicher Diskurs kann aus technischen Buchungen politische Verantwortung machen. Wenn wir verstehen, dass jede Bilanz eine Geschichte erzählt – von Überschuss und Mangel, von Vertrauen und Risiko – sind wir besser positioniert, um Alternativen zu denken: stärkere regionale Kooperation, faire Handelsregeln, gerechtere Finanzarchitekturen oder Instrumente zur Dämpfung exzessiver Kapitalflüsse.
Zum Schluss ein Cliffhanger-Gedanke: Wenn die Welt weiter in dieselbe Richtung läuft – steigende Ungleichgewichte, Konzentration von Sicherheit, Dominanz einer Reservewährung – dann bleiben die Risiken latent und die SNB wird zu einem immer grösseren Akteur, der globalen Schocks hinterherrennt.
Was, wenn wir stattdessen beginnen, an die Ursachen heranzugehen, statt nur Symptome zu lindern? Das ist die echte Frage, die hier nicht nur ökonomisch, sondern demokratisch beantwortet werden muss. Im nächsten Artikel geht es genau darum – die Ursachen will die Politik nicht ändern, dann schauen wir nach unkonventionellen Lösungen.

