Weitere Wohlstandsindikatoren
Einleitung
Im letzten Jahr erschien hier bereits ein Artikel mit dem Titel “Weitere Faktoren des Wohlstandes eines Landes”. Hier nun eine Ergänzung
Wie misst man den Wohlstand eines Landes wirklich? Reicht es, auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu schauen, auf die jährliche Wachstumsrate oder die Exportzahlen? Auf den ersten Blick wirken diese Kennzahlen wie klare Beweise für ökonomische Stärke. Doch stellen wir uns die Frage: Spiegelt ein steigendes BIP automatisch wider, dass es den Menschen besser geht? Bedeutet ein Exportüberschuss, dass der Wohlstand nachhaltig wächst – oder verbirgt sich dahinter ein fragiles System, das mehr Probleme schafft, als es löst?
In der Schweiz erleben wir eine paradoxe Situation: Einerseits sind die offiziellen Zahlen glänzend – von Jahr zu Jahr steigende Rekordüberschüsse im Export, jahrelang hohe Unternehmensgewinne, weitgehend solide Staatsfinanzen. Vor allem im Vergleich zu den umliegenden EU Staaten. Andererseits spüren viele Menschen im Alltag das Gegenteil: steigende Wohnkosten, eine zunehmende Belastung durch Krankenkassenprämien, durch die Verwaltung stetig wachsende Bürokratie, Druck am Arbeitsplatz. Das, was als Erfolg verkauft wird, fühlt sich für viele nicht wie Wohlstand an.
Wohlstand ist mehr als Statistik. Wohlstand ist die erlebte Lebensqualität der Bevölkerung: bezahlbarer Wohnraum, funktionierende Infrastruktur, Sicherheit im öffentlichen Raum, auch Nachts, gesunde Arbeitsbedingungen, eine Ausbildung, die Zukunftschancen eröffnet, und eine Wirtschaft, die nicht von kurzfristigen Effekten lebt, sondern langfristige Stabilität schafft. Wenn wir nur auf das BIP oder die Exportbilanz blicken, übersehen wir die Faktoren, die das tägliche Leben prägen – und damit auch die wahre Substanz unserer Gesellschaft.
Besonders problematisch ist der steigende Exportüberschuss: Er wird oft als Beleg für Stärke präsentiert, doch er zieht Entwicklungen nach sich, die die Schweiz vor tiefgreifende Herausforderungen stellen. Immer mehr Arbeitskräfte müssen aus dem Ausland geholt werden, damit der Produktionszuwachs überhaupt aufrechterhalten werden kann. Das treibt die Nachfrage nach Wohnraum in den Städten nach oben, wo ohnehin schon Mangel herrscht. Die Folge: steigende Mieten, überfüllte Infrastrukturen, soziale Spannungen. Gleichzeitig sammelt die Schweizerische Nationalbank (SNB) als Folge der unausgeglichenen Zahlungsbilanz riesige Guthaben in Euro und Dollar an – und schafft dafür neue Franken-Guthaben, die im Bankensystem zirkulieren. Ein scheinbarer Erfolg, der jedoch auf tönernen Füssen steht.
Diese Diskrepanz – glänzende Zahlen auf der einen Seite, wachsende Alltagsprobleme auf der anderen – wirft eine zentrale Frage auf: Wollen wir uns weiterhin mit oberflächlichen Indikatoren zufriedengeben, oder sind wir bereit, tiefer zu schauen? Sind wir bereit, neue Maßstäbe für Wohlstand zu entwickeln, die wirklich abbilden, wie es der Bevölkerung geht?
Dieser Artikel geht genau dieser Frage nach. Er zeigt anhand konkreter Kennzahlen, wie man jenseits des BIP erkennen kann, ob der Wohlstand tatsächlich wächst oder schwindet. Er beleuchtet die Unterschiede zwischen konsumtiven und investiven Ausgaben, zwischen Verwaltung und Wertschöpfung, zwischen Prävention und Symptombekämpfung. Und er nimmt die Schattenseiten des Exportüberschusses ins Visier: von der Wohnungsnot bis zu den wachsenden Risiken in der SNB-Bilanz.
Doch Vorsicht: Die Ergebnisse könnten überraschend sein. Wer nur auf die klassischen Zahlen vertraut, sieht vielleicht Wohlstand, wo in Wahrheit eine schleichende Erosion stattfindet. Und wer die tieferen Indikatoren betrachtet, wird erkennen: Es ist höchste Zeit, den Begriff „Wohlstand“ neu zu denken – und ihn an der Lebensqualität der Menschen zu messen, nicht an den Bilanzen der Exportindustrie.
Neue Indikatoren für echten Wohlstand
Wohlstand ist mehr als Zahlenkolonnen, Wachstumsraten oder Exportrekorde. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wächst, Firmen steigern ihre Gewinne, die Staatskassen füllen sich – doch fühlen sich die Menschen dadurch wirklich reicher? Steigt ihre Lebensqualität? Oder verschwinden steigende Einkommen im Strudel höherer Mieten, steigender Krankenkassenprämien und wachsender Unsicherheit im öffentlichen Raum?
Die offiziellen Erfolgskennzahlen sind oft trügerisch. Ein Blick in die reale Lebenswelt zeigt: Es braucht andere Indikatoren, die uns verraten, ob der Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten zunimmt oder ob er auf tönernen Füßen steht. Der Fokus muss auf jenen Faktoren liegen, die tatsächliche Substanz schaffen und langfristig tragfähig sind. Die folgenden Punkte liefern konkrete Ansatzstellen, um Wohlstand nicht abstrakt, sondern praxisnah zu messen.
1. Konsumausgaben vs. Investitionsausgaben des Staates
Ein Staat kann Geld in zwei Richtungen ausgeben: für laufenden Konsum oder für Investitionen. Konsumausgaben sind notwendig, etwa für die Verwaltung, den Unterhalt öffentlicher Gebäude oder laufende Sozialleistungen. Doch sie schaffen kaum zusätzliche Werte für die Zukunft. Investitionen dagegen – in Infrastruktur, Bildung, Forschung oder stabile und zahlbare Energieversorgung – erhöhen die Produktivität der Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg.
In der Schweiz liegt der Schwerpunkt seit Jahren auf steigenden Konsumausgaben. Die Gesundheitskosten und der Pflegebereich verschlingen immer größere Anteile der Budgets, während Investitionen in Bildung oder Infrastruktur oft zurückstehen. Langfristig schwächt dies die Wettbewerbsfähigkeit. Ein Land, das überproportional konsumiert, aber zu wenig investiert, lebt von seiner Substanz.
2. Konsum- und Investitionsausgaben von Wirtschaft und Haushalten
Nicht nur der Staat, auch Unternehmen und Haushalte stehen vor dieser Wahl. Firmen, die Gewinne ausschütten, statt sie in Forschung, Innovation oder neue Maschinen zu investieren, verlieren langfristig an Stärke. Kurzfristige Profite dominieren, doch die Substanz bröckelt.
Auch Privathaushalte sind betroffen: Steigen die Lebenshaltungskosten – etwa durch Mieten oder Krankenkassenprämien – so bleibt weniger Spielraum für Weiterbildungen, Vorsorge oder den Erwerb langlebiger Güter. In der Schweiz sinkt die private Sparquote seit Jahren, während der Konsum über Kredite finanziert wird. Diese Entwicklung ist ein Warnsignal: Wenn Konsum durch Verschuldung aufrechterhalten wird, ist das Fundament des Wohlstands brüchig. Der Einkauf beim grossen schwedischen Möbelhaus mit den 4 Buchstaben statt beim lokalen Schreiner zeigt auch, dass Qualität nicht an erster Stelle beim Konsum steht.
3. Gesundheitsprävention als Anteil der Gesamtkosten
Die Gesundheitskosten sind ein Dauerthema. 2023 lagen sie bei über 90 Milliarden Franken – mehr als 11 % des BIP. Doch der Anteil, der in Prävention investiert wird, bleibt verschwindend gering. Ein System, das vor allem Krankheiten behandelt, statt sie zu verhindern, arbeitet ineffizient. Und manche Politiker verwechseln ein auch auf steigenden Krankheitskosten basierendes BIP als Fortschritt.
Vorbeugung durch Aufklärung, Präventionsprogramme, gesunde Ernährung oder Bewegungsförderung könnte die Kostenexplosion bremsen. Stattdessen steigen die Krankenkassenprämien Jahr für Jahr. Für die Bevölkerung bedeutet das: steigende finanzielle Belastung bei sinkendem Vertrauen in die Zukunft. Ein höherer Präventionsanteil wäre nicht nur volkswirtschaftlich klug, sondern würde direkt die Lebensqualität erhöhen.
4. Anteil der reinen Verwaltungskosten
Verwaltung ist unvermeidlich, aber ihr Anteil sollte im Rahmen bleiben. In der Schweiz steigt der administrative Aufwand stetig, sei es im Gesundheitswesen, im Bildungsbereich oder in der Finanzaufsicht. Oft wird mehr Zeit in Dokumentation und Berichterstattung investiert als in die eigentliche Leistungserbringung.
Ein hoher Verwaltungskostenanteil bedeutet Ressourcenverschwendung. Jeder Franken, der in Bürokratie gebunden ist, fehlt für produktive Tätigkeiten. Für die Bevölkerung äußert sich das in höheren Gebühren, komplexeren Prozessen und mehr Frust im Alltag. Ein klarer Indikator dafür, ob Wohlstand real ankommt, ist daher die Entwicklung der Verwaltungskosten im Verhältnis zur gesamten Wertschöpfung.
5. Ausbildungsstruktur: Wertschöpfung vs. Verwaltung
Die Schweiz rühmt sich ihres dualen Bildungssystems, das Handwerks- und Industrieberufe stark macht. Doch ein genauer Blick zeigt: Immer mehr junge Menschen streben in Bereiche, die primär Verwaltung, Kontrolle oder Organisation bedienen. Wertschöpfende Tätigkeiten – vom Handwerk über technische Berufe bis zur industriellen Produktion – leiden unter Fachkräftemangel.
Das Resultat ist paradox: Während in der Verwaltung Überangebote entstehen, fehlen in den produktiven Bereichen die Hände. Für den Wohlstand bedeutet das einen Rückschritt. Denn echte Werte entstehen dort, wo gearbeitet, produziert und Neues geschaffen wird – nicht dort, wo nur kontrolliert und verwaltet wird.
6. Jahresarbeitszeit pro Kopf
Die Jahresarbeitszeit pro Erwerbstätigem ist ein weiterer Schlüsselindikator. In der Schweiz arbeiten die Menschen zwar im internationalen Vergleich relativ viel, doch die Tendenz geht zu kürzeren Arbeitszeiten und mehr Teilzeitarbeit. Das wäre kein Problem, wenn die Produktivität pro Stunde entsprechend steigen würde. Doch genau hier stagniert die Entwicklung.
Wenn die Gesamtarbeitszeit sinkt und gleichzeitig die Produktivität stagniert, schrumpft das Potenzial für zusätzlichen Wohlstand. Gleichzeitig müssen steigende Sozialausgaben finanziert werden, was die Belastung für die verbleibenden Vollzeitarbeitenden erhöht. Die Frage ist: Wie lange kann dieses Modell tragen, bevor es zu sozialen Spannungen kommt?
7. Exportüberschuss und die Rolle der SNB
Seit Jahren erwirtschaftet die Schweiz Exportüberschüsse. Oberflächlich wirkt dies wie ein Erfolgsmodell: Schweizer Firmen sind international wettbewerbsfähig, die Handelsbilanz zeigt Überschüsse, Gemeinden, Kantone und der Bund profitieren von Steuereinnahmen. Doch dieser Erfolg hat eine Kehrseite.
Weil die Zahlungsbilanz unausgeglichen ist, sammelt die Schweizerische Nationalbank (SNB) riesige Fremdwährungsguthaben in Euro und Dollar um den Kurs des Frankens nicht zu stark ansteigen zu lassen. Um diese zu halten, schafft sie im Gegenzug Franken-Zentralbank-Guthaben für den Bankenkreislauf. So flutet sie das System mit Liquidität, die, in den einzelnen Bankbilanzen, den Anschein von Stabilität erzeugt. Doch die Basis ist fragil: Ein Einbruch der internationalen Märkte oder politische Spannungen – wie etwa durch die US-Zölle unter Donald Trump – könnten das Kartenhaus zum Einsturz bringen.
8. Zuwanderung und Wohnungsnot
Der Exportüberschuss führt zu einem weiteren Effekt: Zuwanderung. Um die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften zu decken, werden immer mehr Menschen aus dem Ausland geholt. Das führt in den Städten zu einer massiven Verknappung von Wohnraum. Die Folge: steigende Mieten, sinkende Verfügbarkeit von bezahlbaren Wohnungen, wachsender Druck auf die Mittelschicht.
Zwar boomt die Bauwirtschaft und neue Wohnsiedlungen entstehen im Rekordtempo, doch die Nachfrage übertrifft das Angebot. Für viele Familien bleibt am Ende des Monats immer weniger übrig, weil ein Großteil des Einkommens für Wohnkosten draufgeht.
9. Gewinner und Verlierer des Exportmodells
Auf den ersten Blick profitieren viele vom Exportüberschuss: Unternehmen steigern Umsätze, Bund und Kantone freuen sich über höhere Steuereinnahmen, die Bauwirtschaft ist ausgelastet, und Zuwanderer profitieren von hohen Schweizer Löhnen. Doch die Schattenseite ist deutlich: Einheimische Arbeitnehmer stehen unter größerem Konkurrenzdruck, die Mieten explodieren, die Lebenshaltungskosten steigen schneller als die Löhne.
Das Exportmodell schafft damit eine Illusion von Wohlstand, der jedoch ungleich verteilt ist. Während einige Branchen Gewinne einfahren, gerät die breite Bevölkerung zunehmend unter Druck. Der Exportüberschuss, der politisch als Erfolg gefeiert wird, birgt langfristig erhebliche Risiken.
10. Exkurs: Die Vollgeld-Initiative im Rückblick
2018 wurde die Vollgeld-Initiative abgelehnt. Ihr Ziel: die Geldschöpfung ausschließlich der Nationalbank zu übertragen, um exzessive Kreditvergabe und damit instabile Finanzblasen einzudämmen. Kritiker warnten vor einem Experiment, Befürworter sahen darin eine Chance auf mehr Stabilität.
Heute, mit Blick auf die gigantischen Franken-Guthaben, die als Spiegelbild der Exportüberschüsse bei der SNB stehen, erscheint die Debatte aktueller denn je. Die zentrale Frage lautet: Wollen wir ein Geldsystem, das auf ungebremster Kredit- und Exportexpansion basiert, oder eines, das reale Werte in den Mittelpunkt stellt? Die Diskussion um Vollgeld hat gezeigt: Es gibt Alternativen – auch wenn sie damals politisch chancenlos waren.
Schlussfolgerung und Ausblick
Die offizielle Schweiz feiert sich für Exportrekorde, häufige Budgetüberschüsse, eine geringe Staatsverschuldung und internationale Bestnoten für Wettbewerbsfähigkeit. Doch hinter den glänzenden Schlagzeilen verbirgt sich eine unbequeme Wahrheit: Unser Wohlstand basiert zunehmend auf privaten Schulden, vor allem Hypotheken, künstlich erzeugter Liquidität und einer Exportmaschine, die immer mehr Menschen ins Land holt, während die Lebensqualität vieler Einheimischer sinkt.
Die Nationalbank hortet Milliarden in Euro und Dollar, schafft dafür Franken-Zentralbank-Guthaben aus dem Nichts und pumpt das Bankensystem mit Geld auf. Der „Erfolg“ besteht darin, dass die Statistik stimmt – nicht darin, dass die Bürger real profitieren. Was als Stabilität verkauft wird, ist in Wahrheit ein Kartenhaus: brüchig, abhängig von globalen Finanzmärkten und jederzeit durch politische Spannungen gefährdet. Trump und die EU lassen grüssen.
Die wahren Kosten tragen die Menschen im Alltag: steigende Mieten, explodierende Krankenkassenprämien, immer höhere Abgaben. Während Konzerne, Banken und der Staat von diesem Modell profitieren, bleibt für den Durchschnittsbürger immer weniger übrig. Und je länger wir an diesem Export- und Schuldensystem festhalten, desto größer wird die Abhängigkeit – von ausländischen Märkten, von der Zuwanderung und von einer Notenbank, die längst selbst in einer Falle sitzt.
Wir müssen uns fragen: Wollen wir weiter einem scheinbaren Erfolg hinterherlaufen, der den Reichtum in den Bilanzen weniger vermehrt, aber die breite Bevölkerung verarmen lässt? Oder haben wir den Mut, Wohlstand neu zu definieren – weg von Exportüberschüssen und Bilanztricks, hin zu echter Wertschöpfung, fairer Verteilung und nachhaltiger Stabilität?
Es ist höchste Zeit, die Mechanismen hinter diesem System zu durchschauen und offen darüber zu sprechen. Die offizielle Politik wird diese Fragen nicht stellen – zu groß sind die Interessen, die am Status quo hängen. Umso wichtiger ist es, dass wir als Bürger Verantwortung übernehmen.
Darum mein Appell: Brechen Sie das Schweigen. Reden Sie mit Freunden und Kollegen über diese Zusammenhänge. Fragen Sie nach, wem der Exportüberschuss wirklich nützt. Hinterfragen Sie die Erfolgsmeldungen von Politikern und Notenbankern. Nur wenn wir gemeinsam Druck aufbauen, können wir verhindern, dass unser Wohlstand weiter auf tönernen Füßen steht – und am Ende in sich zusammenbricht.