Fiskalpolitik für Souveränität statt europäischer IWF
Anfang November hat die Europäische Kommission „Orientierungen“ zur Reform der europäischen Fiskalregeln publiziert. Darin schlägt sie vor, in Zukunft länderspezifische Ausgabenpfade auf Grundlage von Schuldentragfähigkeitsanalysen vorzugeben. Das klingt erstmal nach einem Feinschmeckerthema. Aber aufgrund ihrer Relevanz gehört die Reform der Fiskalregeln eigentlich auf Seite Eins und ganz oben in den Newsfeed. Denn vom Fiskalrahmen hängt ab, ob Europa in Zukunft das Nötige für die Dekarbonisierung und Stärkung seiner Souveränität tun kann und die Einlösung des Versprechens von Wachstum und Konvergenz in der EU gelingt. Beides ist essenziell, wenn sich ein politisch stabiles Europa in der Welt behaupten möchte.
Der Vorschlag der EU-Kommission
Die Europäische Kommission schlägt substanzielle Änderungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts vor: Unter den bisherigen Regeln müssen sich Staaten an numerische Ziele halten, die weitgehend standardisiert sind. In Zukunft soll nun die Kommission für jeden einzelnen Staat eine Schuldentragfähigkeitsanalyse erstellen und darauf basierend einen Ausgabenpfad für die nächsten vier Jahre festlegen. Dieser Ausgabenpfad soll dann von der nationalen Regierung in den Haushalt übernommen werden. Staaten, die Reformen und Investitionen geplant haben, können bei der Kommission auf Basis konkreter Planungen beantragen, temporär etwas mehr Spielraum zu erhalten.
Ein europäisches IWF-Regime
Das von der EU-Kommission vorgeschlagene Vorgehen ähnelt sehr stark der Arbeitsweise des Internationalen Währungsfonds (IWF). Der IWF vergibt Kredite an Staaten und macht im Gegenzug Vorgaben für die Fiskalpolitik. Aus Sicht des IWF ist das durchaus nachvollziehbar. Schließlich hätte er gern sein Geld zurück. Im Kontext der europäischen Fiskalregeln geht es aber um nationale Staatshaushalte. Deren Eckpunkte möchte nun die EU-Kommission auf bis zu vier Jahre im Voraus – unabhängig von Wahlen und etwaigen Regierungswechseln – festlegen.
Ein so weitreichender Eingriff in nationale Politik muss gut begründet werden. Ziel der fiskalpolitischen Überwachung ist laut EU-Verträgen die Vermeidung „grober Fehler“. Nun ist es kaum zu erklären, wieso es einer so detaillierten Inspektion nationaler Finanzen und Reformvorhaben sowie vierjährigen Budgetplanung bedarf, um grobe Fehler zu vermeiden.
Dazu kommen drei weitere Probleme mit der Methodik von Schuldentragfähigkeitsanalysen, denen im Vorschlag der Kommission eine zentrale Rolle zukommt. Erstens sind sie unbeständig: Ihre Ergebnisse können sich von einem Jahr auf das nächste signifikant unterscheiden, wie Abbildung 1 zeigt. Hier sieht man, wie sich die Projektionen für Italien über die von wenigen makroökonomischen Überraschungen geprägten Jahre 2015 bis 2019 signifikant verändert haben.
Zweitens können Schuldentragfähigkeitsanalysen zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden. Käme die EU-Kommission auf Basis ihrer Schätzungen zu dem Ergebnis, dass die Schulden eines Staates nicht tragfähig sind, würden die Finanzmärkte wahrscheinlich mit entsprechenden Zinsaufschlägen reagieren. Die hochschnellenden Finanzierungskosten würden dafür sorgen, dass die Schulden tatsächlich rapide ansteigen. Ähnlich ist es bei der Projektion von Wachstum, die in jeder Schuldentragfähigkeitsanalyse durchgeführt werden muss. Fällt diese Schätzung niedrig aus, wird eine restriktive Fiskalpolitik angesetzt, um die Tragfähigkeit der Schulden zu sichern. Eine restriktive Fiskalpolitik führt bei unterausgelasteter Wirtschaft allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst zu niedrigem Wachstum. Sowohl in Bezug auf Wachstum als auch in Bezug auf Schulden beeinflussen die Projektionen also selbst die Realität. Es gibt daher nicht die eine „richtige“ Projektion, sondern nur konsistente oder inkonsistente. Wer projiziert, wählt aus.
Drittens und zuletzt enthalten Schuldentragfähigkeitsanalysen weiterhin unbeobachtbare Variablen wie Potenzialwachstum und Produktionspotenzial (mehr Details gibt es hier). Diese haben schon das alte Regelwerk geschwächt: Wie wir in unserer vergangenen Arbeit gezeigt haben, fußen diese beiden Variablen auf normativen Annahmen, die weder demokratisch legitimiert noch fiskalpolitisch sinnvoll sind. Wird auf diesem Fundament gebaut, so schwächt das die Legitimität des Regelwerks.
Was tun?
Das Instrument der Schuldentragfähigkeitsanalyse ist grundsätzlich keine schlechte Methode. Um sie effektiv und legitim auszugestalten, sollte der Kommissionsvorschlag jedoch weiterentwickelt werden, insbesondere durch Vereinfachungen und eine bessere Unterscheidung zwischen technischen und politischen Fragen. Dafür haben wir vier Vorschläge entwickelt:
Erstens, die zentralen Annahmen der Schuldentragfähigkeit sollten mit den zentralen Zielen des Stabilitäts- und Wachstumspakts, insbesondere Wachstum und Konvergenz[1] im Einklang stehen und demokratischer Kontrolle – zum Beispiel durch das EU-Parlament – unterstellt werden.
Zweitens, die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Ausgabenpfade sollten von nationalen Parlamenten verabschiedet und bei Regierungswechsel neu verhandelt werden können.
Drittens, unbeobachtbare Variablen können vielleicht nicht abgeschafft werden, sollten aber einer Reform unterzogen werden. Auch hier ist zentral, dass die wichtigen Annahmen in einem politischen Prozess beschlossen werden. Das gilt insbesondere für Fragen des Arbeitspotenzials.
Viertens fragen wir uns, ob es wirklich individueller Ausgabenpfade für alle Staaten bedarf. Alternativ und vereinfachend könnte man ermitteln, welches Primärsaldo (Haushaltssaldo ohne Zinszahlungen) nötig ist, um eine Senkung des Schuldenstands auch für Staaten mit hohen Finanzierungskosten zu ermöglichen. Alle Staaten, die dieses Primärsaldo einhalten (oder sowieso einen niedrigen Schuldenstand haben) könnten dann als fiskalisch nachhaltig gelten. Für die anderen gilt das von der EU-Kommission vorgeschlagene Verfahren. Einen ähnlichen Vorschlag, mit dem knappe analytische und politische Ressourcen besser priorisiert werden, haben wir bereits in unserem Papier zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts gemacht.
Die offene Frage
Aber auch mit all diesen Anpassungen bleibt eine große Frage der europäischen Fiskalpolitik unbeantwortet: Wie vereint man das Ziel des Schuldenabbaus mit Investitionen und Reformen? Die EU-Kommission scheint schlicht anzunehmen, dass unter sorgfältig konstruierten Regeln beides gleichzeitig möglich ist. Das muss nicht stimmen. Unseren Berechnungen nach steigt die durchschnittliche europäische Schuldenquote allein aufgrund des höheren Zinsniveaus und der zunehmenden Kosten der Alterung in der zweiten Hälfte der 2020er Jahre an. Rechnet man nun dazu, dass die EU-Staaten 1 % des BIPs zusätzlich für den Klimaschutz ausgeben[2] und die Verteidigungsausgaben auf die von der NATO vorgegebenen 2 % steigen, würde die Schuldenquote über ihr vormaliges Maximum wachsen. Keine noch so kluge Fiskalregel kann den hier absehbaren Widerspruch zwischen Schuldenabbau und Investitionen beseitigen. Um den aufzulösen, bedürfte es einer grundsätzlicheren Betrachtung der Finanzierungsseite, die sowohl Verschuldung als auch Besteuerung berücksichtigt.[3]
Während Europa sich auf die Schrumpfung der öffentlichen Bilanz konzentriert, haben die USA ihre Fiskalpolitik in einem entscheidenden Punkt vom Kopf auf die Füße gestellt. Zwei Drittel der Ausgaben im Rahmen des Inflation Reduction Act (IRA) werden für finanzielle Anreize verwendet, deren fiskalisches Volumen nicht begrenzt ist. Die US-Regierung gibt also für diese Programme aus, was abgefragt und gebraucht wird.
Das heißt nicht, dass die USA planen sich grenzenlos zu verschulden: Im Gegenteil geht das Congressional Budget Office davon aus, dass die Einführung der Mindeststeuer für Unternehmen, eine Preisreform für verschreibungspflichtige Medikamente und eine verbesserte Steuervollstreckung weit mehr einbringen als der IRA kostet. Nur: die Regierung macht Klimaausgaben nicht von den Mehreinnahmen, bzw. Minderausgaben auf der anderen Seite abhängig, sondern nutzt ihre Bilanz, um zu tun was nötig ist. Angesichts der existentiellen Bedrohung, die der Klimawandel darstellt, ist dies der richtige Ansatz. Ermöglicht wird er durch den Status der USA als souveräner Schuldner, der Anleihen in der am meisten nachgefragten Reservewährung ausgibt.
Die gleichen Möglichkeiten gäbe es in Europa theoretisch auch. Auf nationaler Ebene beschränken jedoch die Fiskalregeln und die eingeschränkte “lender of last resort” Funktion der EZB die Bilanz, so dass Zukunftsausgaben[4] tendenziell steuerfinanziert werden müssten. Zur supranationalen Ebene – also zu weiterer gemeinsamer Kreditaufnahme –findet sich nichts in dem Vorschlag der EU-Kommission. Ebenso wenig ist bereits beschlossen, wo zukünftig zusätzliche Einnahmen auf EU-Ebene herkommen, die den bisherigen (und ggf. neuen) Schulden langfristig gegenüberstünden. Auch eine wachsende europäische Bilanz ist also nicht angelegt. Während sich die USA ihrem exorbitant privilege bedient, um die Transformation voranzubringen, versagt man sich in Europa dieses Privilegs ganz explizit.[5]
Das passt nicht mit dem Streben nach mehr Souveränität zusammen. Blickt man in die Geschichte zurück, setzten aufstrebende Nationen alles daran, sich günstigen und verlässlichen souveränen Staatskredit zu sichern. Europa bindet sich stattdessen selbst die Hände zusammen.
Immerhin wissen wir seit Dienstag, dass die gemeinsame Kreditaufnahme im Rahmen von Next Generation EU nicht verfassungswidrig war. Zumindest aus rechtlicher Perspektive scheint es also möglich, dass Europa sich in Krisenzeiten und für bestimmte Ausgabenzwecke temporär die Hände losbindet, um souverän zu handeln.
Wer mehr wissen möchte
Zusammen mit unserem holländischen Partner, dem Instituut voor Publieke Economie, haben wir ein kurzes Papier mit Ideen zur Weiterentwicklung der Kommissionsvorschläge geschrieben, sowie kurze Hintergründe und Erklärungen zu Ausgabenregeln und Schuldentragfähigkeit verfasst.
In ihrem Eingangsstatement bei einer Expertenanhörung im Europäischen Parlament zu Schuldentragfähigkeit hat Philippa außerdem ihre Bedenken zur Verwendung von Schuldentragfähigkeitsanalysen und der Begrenzung der Schuldenquoten ohne europäische Fiskalkapazität geäußert.
Dieser Artikel wurde zuerst vom Dezernat Zukunft veröffentlich.
Verfasst von: Philippa Sigl-Glöckner und Max Krahé
Bild: Christian Lue
Fußnoten:
[1] EUV, Artikel 3(3), EUV Präambel.
[2] Darvas und Wolff (2021): A green fiscal pact: climate investment in times of budget consolidation, Policy Contribution 18/2021, Bruegel.
[3] Zu einer solchen grundsätzlicheren Betrachtung gehört sicher auch die Überprüfung bestehender Ausgaben. Es ist jedoch nicht offensichtlich, dass diese Spielräume in einer sehr signifikanten Größenordnung generieren würde.
[4] Gemeint sind Ausgaben, die die zukünftige Produktivität steigern.
[5] Die Möglichkeit, Zukunftsausgaben steuerfinanziert zu tätigen ist damit nicht ausgeschlossen. Jedoch erzwingt diese eine Entscheidung zwischen zwei schlechten Optionen: Die vollständige Finanzierung von Zukunftsausgaben durch sehr hohe Steuereinnahmen zum Zeitpunkt der Ausgabe selbst – eine Finanzierungsmodalität, die in der Privatwirtschaft so gut wie nie verwendet wird – oder ein Nichttätigen (oder langes herausschieben) der Zukunftsausgabe.