Willkommen im Forum Geldpolitik!

Bilanzielle Gegenseitigkeit – Jede Geldschuld entspricht einem Geldguthaben

Bilanzielle Gegenseitigkeit – Jede Geldschuld entspricht einem Geldguthaben

Einleitung: Die unsichtbare Gleichung hinter jedem Franken

Wenn Sie heute einen Blick auf Ihr Konto werfen und ein Guthaben sehen – zum Beispiel 3.500 Franken – denken Sie vermutlich:
„Das ist mein Geld.“ Und auf eine Weise stimmt das auch. Doch kaum jemand stellt sich die Folgefrage:
„Wessen Schuld ist das eigentlich?“ Denn so seltsam es klingt – Ihr Geld ist nicht einfach „da“. Es ist auch nicht neutral. Es existiert nur, weil irgendwo in der Wirtschaft eine gleich hohe Schuld verbucht wurde. Und das ist kein Sonderfall, sondern ein Grundprinzip unseres gesamten Geldsystems:

Jeder Geldbetrag hat zwei Seiten.

In der doppelten Buchführung – der Sprache der Wirtschaft – ist jede Bewegung eine Beziehung. Wo ein Guthaben entsteht, muss es auf der anderen Seite eine gleich große Verbindlichkeit geben. Wo jemand Geld besitzt, muss ein anderer verpflichtet sein, diesen Betrag zu zahlen. So wie ein Pluspol nur mit einem Minuspol einen Stromkreis bildet, so entsteht Geld erst durch diese bilanzielle Gegenseitigkeit:

Guthaben und Schuld bedingen sich gegenseitig.

Die meisten Menschen nehmen Geld als etwas Eigenständiges wahr – als neutrale Ressource, als Tauschmittel, das einfach „da ist“. Doch Geld ist kein Naturprodukt. Es ist ein soziales Konstrukt, das auf Vertrauen basiert – und auf Buchführung. Genau genommen ist Geld eine Forderung. Und jede Forderung braucht einen Schuldner.

Diese einfache Wahrheit wird selten ausgesprochen, obwohl sie in jeder Bank, in jeder Firma, in jeder volkswirtschaftlichen Statistik gilt. Sie ist so allgegenwärtig, dass sie unsichtbar geworden ist. Dabei entscheidet sie darüber, wie Geld entsteht, wie es sich verteilt – und warum Krisen auftreten, wenn das Gleichgewicht gestört wird.

In diesem ersten Artikel der Reihe „Grundprinzipien des Geldsystems“ werfen wir den Blick dorthin, wo er selten hingeht: auf die Bilanzen hinter dem Geld. Auf die stille Gleichung, die unser Wirtschaftssystem trägt – und ohne die kein einziger Franken existieren könnte.

Hauptteil: Jede Schuld ein Guthaben – die stille Balance des Geldes

1. Zwei Seiten, ein System: Was ist bilanzielle Gegenseitigkeit?

Das Prinzip ist einfach – fast schon banal – und doch verstehen es die wenigsten:
Jeder Geschäftsvorgang im modernen Geldsystem wird doppelt gebucht. Für jede Transaktion gibt es zwei Seiten: eine Forderung und eine Verbindlichkeit, oder im Buchhalterjargon: Soll und Haben. Dieses System der doppelten Buchführung sorgt dafür, dass sich jede Bilanz immer ausgleichen muss – auf den Rappen genau.

Was das mit Geld zu tun hat? Alles. Denn Geld existiert in unserer modernen Wirtschaft nicht als objektiver, unabhängiger Wert – sondern als Zahl in einer Bilanz. Und diese Zahl ist immer eingebettet in eine Beziehung: Wenn eine Bank jemandem 10.000 CHF als Kredit einräumt, dann entsteht daraus auf einen Schlag:

  • auf der Aktivseite der Bank: eine Forderung gegenüber dem Kreditnehmer (die Rückzahlungspflicht)

  • auf der Passivseite der Bank: ein Guthaben des Kreditnehmers (die sofort nutzbare Einlage)

Für den Kreditnehmer wiederum entsteht:

  • eine Verbindlichkeit gegenüber der Bank (Schuld)

  • ein Guthaben auf seinem Konto (Forderung an die Bank)

Beide Seiten der jeweiligen Bilanzen müssen sich immer exakt die Waage halten.

Es gibt kein Geld ohne Gegenseite.

2. Warum sich jede Bilanz ausgleichen muss

Eine Bilanz ist wie eine Waage: Auf der einen Seite stehen die Mittel, auf der anderen die Herkunft dieser Mittel. Die Grundformel lautet:

Aktiva = Passiva

Das gilt für ein einzelnes Unternehmen ebenso wie für das gesamte Bankensystem – ja sogar für die Volkswirtschaft als Ganzes. Wenn irgendwo in der Wirtschaft ein neues Guthaben entsteht, dann muss im selben Moment irgendwo eine gleich große Schuld verbucht werden. Das ist keine ökonomische Meinung, sondern buchhalterische Logik.

Das bedeutet auch: Wenn Schulden abgebaut werden – zum Beispiel durch Rückzahlung von Krediten –, dann verschwinden damit auch die dazugehörigen Guthaben. Beide Seiten schrumpfen symmetrisch. Dieses Phänomen wird oft übersehen, obwohl es tiefgreifende Konsequenzen für Wirtschaftswachstum und Stabilität hat (mehr dazu in späteren Artikeln).

3. Geld als Forderung – kein Besitz, sondern Beziehung

Was wir im Alltag „Geld“ nennen, ist meist Buchgeld – also das Guthaben auf einem Bankkonto. Doch buchhalterisch betrachtet ist dieses Guthaben nichts anderes als eine Forderung an die Bank. Es ist kein Besitz wie ein Apfel oder ein Auto, sondern eine Vereinbarung: „Die Bank schuldet mir diesen Betrag.“

Diese Sichtweise hat weitreichende Folgen. Denn wenn jedes Guthaben eine Forderung ist, dann muss jede Forderung irgendwo eine Schuld sein. Und zwar in genau der gleichen Höhe. Das bedeutet:

Das Geld auf Ihrem Konto ist die Schuld der Bank.

Und die Bank wiederum hat eine Gegenforderung – zum Beispiel in Form eines vergebenen Kredits. So entsteht ein Netzwerk von Verbindlichkeiten, das sich durch die gesamte Wirtschaft zieht – unsichtbar, aber exakt austariert.

4. Wenn das Gleichgewicht gestört wird

Was passiert, wenn ein Schuldner nicht mehr zahlen kann? Wenn zum Beispiel ein Unternehmen Insolvenz anmeldet und seinen Kredit nicht zurückzahlt? In diesem Fall muss der Gläubiger – etwa eine Bank – die Forderung abschreiben. Damit verschwindet nicht nur die Schuld aus der Bilanz des Unternehmens, auf der Passivseite der Bankbilanz muss sich auch etwas verändern. Im Normalfall nimmt das Eigenkapital der Bank ab. Der Verlust ist also real. Wenn zu viele Kredite gleichzeitig nicht mehr zurück gezahlt werden können, muss die Bank Insolvenz anmelden und die Einlagen der Kunden verschwinden als Folge davon auch. Ein Teil bis max. CHF 100'000 ist aber über die Einlagenversicherung „versichert“. Aber eben nur ein Teil.

Umgekehrt: Wird ein Kredit zurückgezahlt, dann reduziert sich nicht nur die Schuld, sondern auch das korrespondierende Guthaben. Der buchhalterische Kreislauf ist geschlossen. Deshalb führt die Rückzahlung von Schulden systemisch betrachtet auch nicht zur Mehrung von Geld, sondern im Gegenteil: Sie reduziert die vorhandenen Kundeneinlagen, also das was üblicherweise „Geld“ genannt wird.

Dieses Prinzip ist gegenläufig zur Alltagserfahrung. Denn wir denken meist individuell – „Ich bin meine Schulden los.“ – und nicht systemisch – „Damit ist auch ein Guthaben verschwunden.“

5. Schuldenstreichung in Babylon – eine frühe Erkenntnis

Schon vor über 3.000 Jahren erkannten die Herrscher Mesopotamiens, dass eine wachsende Schuldenlast nicht nur einzelne Haushalte bedrohte, sondern ganze Gesellschaften destabilisieren konnte. Wenn Bauern ihre Felder verloren, weil sie ihre Schulden nicht bedienen konnten, oder wenn Schuldsklaverei zunahm, drohte der wirtschaftliche und soziale Zerfall.

Die Antwort darauf war radikal und regelmäßig: staatlich verordnete Schuldenerlasse – sogenannte „Misharum“- oder „Andurarum“-Dekrete. Diese „Clean Slate“-Proklamationen setzten private Schulden außer Kraft, befreiten Schuldsklaven und stellten das ursprüngliche Eigentum wieder her. Besonders bekannt sind solche Erlasse von Königen wie Ammisaduqa, Urukagina oder Enmetena.

Der Wirtschaftshistoriker Michael Hudson, einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet, beschreibt das so:

„The economic role of Clean Slates was to restore balance in the economy by annulling personal debts that had grown too large to be repaid and that threatened to destabilize society.“
(Michael Hudson, „...and forgive them their debts“, 2018)

Das war keine reine Wohltätigkeit – es war eine bewusste staatliche Intervention, um die wirtschaftliche Ordnung zu stabilisieren. Entscheidend dabei: Mit dem Erlass der Schulden verschwanden auch die korrespondierenden Guthaben. Die bilanzielle Gegenseitigkeit war den babylonischen Schreibern also durchaus bewusst – auch wenn sie sie nicht so nannten.

Diese Praxis zeigt, dass das Gleichgewicht zwischen Schuld und Guthaben nicht nur technisch, sondern auch politisch und sozial verhandelt wird. Sie erinnert uns daran, dass Geldbeziehungen Menschen verbinden – oder trennen – und dass das Gleichgewicht zwischen beiden Seiten immer wieder hergestellt werden muss.

6. Die Unsichtbarkeit des Gleichgewichts

Warum bleibt dieses grundlegende Prinzip so oft unbeachtet? Weil wir es im Alltag nicht sehen. Wir sehen unser Konto – nicht die Gegenbuchung in der Bankbilanz. Wir denken in Geldsummen – nicht in Verbindungen.

Das System wirkt stabil, weil es mathematisch stets ausgeglichen ist. Doch dieser Ausgleich ist kein Naturgesetz, sondern ein Resultat menschlicher Buchführung. Und sobald dieses Gleichgewicht gestört wird – etwa durch Kreditausfälle, Masseninsolvenzen oder Vertrauensverlust –, zeigt sich, wie fragil das System ist.

Die bilanzielle Gegenseitigkeit ist wie ein unsichtbares Rückgrat. Sie trägt unser Geldsystem – leise, präzise, unverzichtbar.

Schlussfolgerung & Ausblick: Das Unsichtbare sichtbar machen

Wir leben in einer Welt, die vom Geld durchdrungen ist – aber nicht vom Verständnis für seine Struktur. Kaum jemand weiß, dass jedes einzelne Guthaben auch eine Schuld ist. Dass das Geld auf unserem Konto nur existiert, weil es auf der anderen Seite eine Verpflichtung gibt. Und dass unser gesamtes Finanzsystem auf diesem Prinzip der bilanziellen Gegenseitigkeit basiert – einem exakten, aber unsichtbaren Gleichgewicht.

Gerade weil dieses Gleichgewicht so leise und selbstverständlich wirkt, wird es selten hinterfragt. Doch es ist kein Naturgesetz. Es ist menschengemacht – und damit veränderbar, verletzlich, manchmal sogar ungerecht. Wenn wir als Gesellschaft verstehen wollen, woher das Geld kommt, wohin es fließt und warum es manchmal fehlt, dann müssen wir hier anfangen:

bei der Erkenntnis, dass Geld immer zwei Seiten hat.

Was wie eine abstrakte Buchhalterregel klingt, ist in Wahrheit von größter gesellschaftlicher Relevanz. Denn die Art und Weise, wie Guthaben und Schulden entstehen und verteilt werden, entscheidet über wirtschaftliche Chancen, politische Macht und soziale Stabilität. Schon die Könige Babylons wussten: Wenn das Gleichgewicht kippt, zerfällt der Zusammenhalt. Ihre Lösung war mutig – und lehrreich.

In den kommenden Artikeln dieser Reihe werden wir uns damit beschäftigen, wie Geld überhaupt entsteht, welche Rolle Banken spielen, wie Inflation und Schuldenkrisen mit dieser Gegenseitigkeit verknüpft sind, und was es bedeutet, wenn manche Schulden „nicht zurückgezahlt werden können“ – oder sollen.

Doch zunächst reicht ein einfacher Gedanke:

Wenn Sie Geld auf dem Konto haben – wer schuldet dann wem denselben Betrag?

Sprechen Sie mit anderen darüber. Mit Freunden, mit Bekannten, mit Kolleginnen. Vielleicht stellen auch sie fest:
Was sie über Geld zu wissen glaubten, war nur die halbe Bilanz.

Staatsverschuldung als Quelle privaten Geldvermögens

Staatsverschuldung als Quelle privaten Geldvermögens